Tag 13: Frische Blumen nur auf dem Friedhof

„Willkommen in Hoyerswerda“, schrieb der SPIEGEL 1991, „willkommen in einem bösartigen, häßlichen, dumpfen Alltag, der bösartige, häßliche, dumpfe Menschen stanzt.“ Wende, Pogrom, Depression, Hoyerswerda – der Name dieser kleinen Stadt in der Lausitz klingt bis heute wie eine der Brandflaschen, die Nazis auf die Flüchtlingsunterkunft schleuderten ­– erst zerbricht das Glas, dann lodern die Flammen, dann bleibt nichts als Kohlereste. Hier würden wir das Wende-Trauma finden, dachten Thomas und ich, die große sächsische Verunsicherung, die Ursprünge des rechten Straßenmobs. Wir haben uns geirrt. (1052 Wörter)

Gibt man Hoyerswerda bei Youtube ein, stößt man schnell auf eine Doku von 1991. Ein Nazi-Mob hatte Tage zuvor Steine und Molotow-Cocktails auf eine Flüchtlingsunterkunft geschleudert, ringsum standen hunderte Bürger, schauten zu, johlten, applaudierten. 32 Menschen wurden verletzt, die Flüchtlinge aus der Stadt evakuiert und Hoyerswerda feierte sich als „ausländerfrei“, lehnte sich völkisch-kreativ an den NS-Begriff „judenfrei“ an und wurde damit bundesweites Synonym für Fremdenfeindlichkeit. In der Doku stehen zwei ARD-Reporter auf dem Marktplatz. Der Mob ist immer noch da, er reckt schwarz-rot-weiße Fahnen in die Luft, feixt, schubst. Polizisten in Kampfmontur schützen die Reporter.

Dann ist da die Doku von 2011. Drei ehemalige Gastarbeiter, die den Pogrom miterlebten, kehren in die Stadt zurück, um mit ihr Frieden zu schließen. Vor laufender Kamera entschuldigt sich der Bürgermeister für die Taten seiner Bürger. Ein berührender Moment. Dann besuchen die Drei ihren ehemaligen Wohnblock. Während sie da stehen, die Köpfe im Nacken das Gebäude hochstarren und über ihre Erfahrungen reden, werden sie angepöbelt. „Meine Scheiße sieht aus wie du“, sagt ein Mann mit Frakturtattoos auf den Unterarmen. „Geh zurück in den Busch, du Bimbo.“

Und dann ist da die Doku von 2015: „Willkommen in Hoyerswerda?“, lautet ihr Titel. Und tatsächlich gibt es ein Willkommensbündnis für die 600 Flüchtlinge, die in die Stadt kommen. Aber auch einen Hammerangriff mit Verletzten und einen Molotow-Cocktail auf die Unterkunft.

Im Zentrum von Hoyerswerda
Im Zentrum von Hoyerswerda

Hoyerswerda wurde von der Wende so schwer getroffen, wie kaum ein anderer Ort. Bevor 1955 das nahegelegene Gaskombinat Schwarze Pumpe gebaut wurde, lebten 10.000 Menschen in der Stadt. Dann wurde Hoyerswerda zur 2. Sozialistischen Stadt ausgerufen, ganze Stadtviertel hochgezogen. 60.000 Menschen aus dem ganzen Land strömten in die modernen Plattenbauten und die Fabriken der Schwarzen Pumpe. Nach der Wende wurde das Gaskombinat fast vollständig stillgelegt und abgerissen. Zehntausende Arbeiter wurden überflüssig, die Stadt verlor ihre Daseinsberechtigung.

Haben solche Erlebnisse die Menschen in Sachsen so verunsichert, dass sie jetzt den Zusammenhalt der wöchentlichen Demos suchen? Dass sie sich gegen die Flüchtlinge zusammentun, um nach innen wieder Gemeinschaft zu spüren?

Bevor wir losfuhren, schienen dies rhetorische Fragen zu sein. Und Hoyerswerda bloß der richtige Ort, um sie mit „Ja“ zu beantworten. Deshalb vereinbarte ich keine Gespräche mit Bürgerinitiativen oder Politikern, weil ich erwartete, dass sie mir genau diese Erklärungsmuster in gedrechselten Reflektionen liefern würden. Stattdessen wollte ich Lebensgeschichten hören, hören, wie sich der Bruch wirklich anfühlte.

Drei Männer im letzten Drittel ihres Lebens haben wir getroffen. Den Kontakt zum Ersten hatte mir ein Kollege vermittelt, die anderen Gespräche haben sich in den folgenden Tagen ergeben.

Der Erste von ihnen erzählt:

Georg Schneider, 64, früher Dispatcher in der Schwarzen Pumpe, heute Vorsitzender der Kleingarten-Kolonie Energiequelle e.V.

Als ich damals aus dem Erzgebirge nach Hoyerswerda kam, war hier noch alles kahl, nur Sand, ein bisschen Gräser, keine Bäume weit und breit. Da wurden wir hier zum Arbeitseinsatz geschickt und haben die Gartenkolonie aufgebaut. Meine Tochter wurde dann 1975 geboren. Es gab keine frischen Blumen in der DDR, nur auf dem Friedhof. Da hat mein Meister gesagt: „Geh in meinen Garten, schneid dir ein paar Tulpen ab und bring sie deiner Frau in die Klinik.“ Ich bin also über den Zaun geklettert und habe die Blumen abgeschnitten. Da haben die Nachbarn geguckt. Ich dachte nur: „Was, wenn die jetzt mit der Harke kommen und mir eins überziehen?“ Alle passen ja auf hier.

In der DDR gab es schon mehr Gemeinschaft. Bei uns in der Platte standen immer alle Türen offen. Oft haben die Kinder aus dem ganzen Haus bei einer Familie gefrühstückt. Und auch so hat jeder jedem geholfen. Unten im Keller hat man gemeinsam Geburtstage und Silvester gefeiert.

Am Tag des Mauerfalls war ich zu Hause. Vielen war nicht bewusst, was das für ein Einschnitt sein würde, von dem einen System in das andere zu kommen. Und dann die Macht, mit der das passiert ist. Das hat alle überrascht.

Ich arbeitete als Dispatcher bei der Schwarzen Pumpe, bei uns ging es von 25.000 Arbeitsplätzen auf 5.000. Aber ich hatte Glück, weil ich schon viele Berufsjahre angesammelt hatte.

Meine Frau war Buchhalterin. Mit der Wende hat sie ihren Job verloren und war seelisch und moralisch erst mal kaputt. Ich hab ihr dann gesagt: „Jetzt ist Schluss. Du machst jetzt irgendwas und wenn es putzen ist.“ Aber das war nicht so einfach für sie, man hat ja auch seinen Stolz. Und dann die verächtlichen Gespräche auf dem Arbeitsamt.

Für die Generation meines Sohnes war es am beschissensten. Der hat genau 1989 ausgelernt und ist auf die Straße geschmissen worden. Er hat dann erst mal blau gemacht, hat ja sein Geld vom Amt gekriegt. Ich habe dann drauf gedrungen, dass er einen Job sucht. Er hatte ja Stahlbauer gelernt.

Meine Tochter ist nach Berlin gegangen und da fast unter die Räder gekommen. Bis sie 40 war, hat sie quasi nur vom Arbeitsamt gelebt. Jetzt wohnt sie bei ihrem Bruder in der Schweiz und arbeitet als Putzfrau. Dabei hat sie eigentlich eine künstlerische Ader. Enkelkinder habe ich nicht. Werde ich auch nicht mehr kriegen.

Einige meiner Kollegen haben die Wende gar nicht verwunden, sind Alkoholiker geworden oder haben Selbstmord begangen.

Was die soziale Kälte angeht, von der immer alle sprechen: Klar ist da einiges weggebrochen an gemeinschaftlichen Aktivitäten in den Betrieben. Aber ich habe das dann einfach selbst in die Hand genommen. Und wenn man Ausflüge nach Dresden oder gemeinsames Bowling organisiert, dann kommen die alten Kollegen auch. Ich bin halt so ein Typ.

Aber es gibt auch die Nörgler, wie meine Cousine. Die sagt ständig: „Wie die da oben uns ausbeuten, was die mit uns machen, das gab es im Sozialismus nicht!“ Einmal ist mir der Kragen geplatzt: „Sagt mal ihr Knallköppe, hättet ihr euch jemals träumen lassen, dass ihr euch mal ein Haus leisten könnt? Und dass ihr jedes Jahr zwei Mal in der Welt rumfahrt?“

Heute ist das Leben auf jeden Fall besser als in der DDR. Die Straßen sind befahrbar, es ist ruhig, die Luft ist besser, die städtischen Einrichtungen sind für Alte gebaut. Es war auf jeden Fall gut, dass es die Wende gab. 

 

Wir essen später noch mit Schneider und seiner Frau zu Mittag. Eine deftige Suppe aus Mettwurst, Kartoffeln und Möhren. Im Sommer wohnen die Beiden in ihrer Laube, verbringen die Tage im Schutz ihres überwachsenen Vordachs. Kurz bevor wir uns verabschieden, sag Schneiders Ehefrau: „So wie es jetzt ist, könnte es noch ein paar Jahre weitergehen.“

Die Wende schien schmerzhaft gewesen zu sein, aber auch lange her. Und Schneider schien ein Typ zu sein, der Probleme anpackt, statt zu lamentieren. Er hatte uns auch als erstes durch den Garten geführt und seine Pläne für den Umbau der Kolonie präsentiert. Ich hatte ihn nach der Wende gefragt. Hätte er selbst davon angefangen? Vielleicht nicht. Überhaupt schienen im Garten die Geschichten von Alkoholismus und Selbstmord wie aus einer anderen Zeit. Schneider erzählte vom Schicksal seiner Familie und Freunde mit großer Gelassenheit. Kein Stocken, keine Suche nach Wörtern. Vielleicht ein bisschen Bedauern darüber, dass seine Tochter nicht mehr Chancen erhalten hatte und dass er keine Enkelkinder bekommen würde.

Hatte die Zeit vielleicht einfach seine Wunden geheilt, waren die Brüche in der Erinnerung weichgezeichnet worden?

Ich fragte Schneider, ob er noch jemanden kennt, mit dem es sich lohnen würde, zu sprechen. Er empfahl uns seinen alten Freund Reinhard Thäßmann, der als Betriebsrat in den Neunzigerjahren die Massenentlassung an vorderster Front erlebt hatte, um jeden Arbeitsplatz und jede Abfindung kämpfte.

Schneider war vielleicht eine glückliche Ausnahme. Thäßmann, so dachte ich, würde uns besser vom Wendetrauma, und wie es die Menschen bis heute prägt, erzählen können.

Ich rief ihn an und vereinbarte einen Termin für den nächsten Tag.

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