Leitkultur, das ist für die sächsische CDU Familie, Heimat, Tradition, und wer in Deutschland leben möchte, muss sich dem anpassen.
Was bedeutet das für mich?
Thomas und ich stehen vor dem Hygienemuseum in Dresden und lachen. Das Museum widmete sich unter den Nationalsozialisten den Rassengesetzen und der Eugenik und heute Abend widmete sich die CDU hier der Leitkultur.
Leitkultur. Leitkultur. Leitkultur.
Immer wieder rufen wir den Begriff in den Abendhimmel, weil die Regionalkonferenz der CDU zum Thema Mehr Patriotismus so absurd war. Weil die sächsische CDU zu glauben scheint, dass es eine einheitliche Kultur in Deutschland gibt. Und dass es bei der Integration von Geflüchteten hilft, wenn man ein „Wir“ und ein „Sie“ definiert.
Am Morgen sitzen wir zwischen Bücherstapeln im Büro von Karl-Siegbert Rehberg, Soziologieprofessor der TU Dresden. An der Wand hängt eine soziologische Ahnengalerie, mit dabei ein Bild von Karl Marx und eines von Vilfredo Pareto, das mal dem Hitlerjünger Carl Schmitt gehörte. Eine Randnotiz, die Rehberg genauso lachend anmerkt, wie die, dass er in der Studentenrevolte der einzige Soziologe war, der Krawatte trug. Er bleibt gern unabhängig, auch wenn er aus seiner tiefroten 68er-Gesinnung kein Geheimnis macht.
Vergangenes Jahr sprach er auf einer Soziologietagung zum Thema Pegida vom „sächsischen Chauvinismus“. Ich will wissen, was es damit auf sich hat, ob es das Phänomen gibt und ob es helfen könnte, zu verstehen, warum in Sachsen so viele Menschen zu fremdenfeindlichen Demonstrationen gehen.
„Der sächsische Chauvinismus ist eine Komponente des Phänomens Pegida, und hängt damit zusammen, dass Sachsen immer, ähnlich Bayern, ein Eigenbewusstsein hatte“, sagt Rehberg. Historisch beziehe sich dieses Eigenbewusstsein auf die frühe und erfolgreiche industrielle Revolution, die in Sachsen stattgefunden hat und auf die Blütezeit des Barock.
Tüchtigkeit, Erfindergeist, das deutsche Detroit – das sind Schlagworte der wirtschaftlichen Selbstbeschreibung Sachsens. Auf der anderen Seite steht die Hochkultur: der Kunstsammler und König August der Starke, das Elbflorenz, die Semperoper.
Die SED verordnete sozialistische Internationale statt Regionalstolz, doch auf den Montagsdemos schwenkten die Menschen neben der deutschen schon bald sächsische Flaggen. Das stolze Sachsentum lebte.
Eine Beobachtung, die auch die Völkskundlerin Ira Spieker, machte. Sie zog erst vor einigen Jahren von Niedersachen in den Osten und sagt: „Auffällig sind die vielen Referenzen auf Sachsen, auch in der Werbung.“ Sachsenmilch ist ein Beispiel unter vielen, genau wie der populäre Song „Sachsen immer lacht“ von Hit-Radio RTL . Zusammengefasst wird die Message all dieser Werbung vielleicht im Slogan des Einkaufszentrums Sachsen Forum in Dresden, das in der Stadt auf großen Plakatwänden zu lesen ist: „Wo shoppen noch einkaufen ist.“
„Dieser sächsische Stolz wurde Anfang der Neunziger-Jahre vom ersten sächsischen CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf sehr geschickt aufgenommen. Er appellierte an die Sachsen: ‚Ihr seid was Besonderes, ihr könnt euch schützen vor all dem, was von außen kommt!’“, sagt Rehberg. „Das half natürlich beim Regieren.“
Gleichzeitig bekam das sächsische Selbstbild mit der Abwicklung der DDR nach 1989 einen schweren Schlag.
Und genau in diesem dunklen Spalt zwischen Stolz und Kränkung hat Pegida seine Wurzeln geschlagen, so Rehberg. „Der Rassismus ist sekundär, eine Maske, die man überstülpt und die man auch plausibel findet, aber die nicht wirklich bewegt.“
Die CDU regiert Sachsen durchgehend seit 1990 und wenn es eng wird, spielt sie die Patriotismus-Karte. Zum Beispiel 2005, als sie zum ersten Mal die absolute Mehrheit verlor.
Matthias Rößler, ehemaliger sächsischer Wirtschaftsminister und derzeitiger Landtagspräsident stellte damals zehn Thesen zum Patriotismus auf. Die Presse fiel über ihn her.
2016 verliert die CDU Wähler an die Alternative für Deutschland, doch anders als damals werfen Nationalisten im ganzen Bundesland Molotow-Cocktails auf Flüchtlingsunterkünfte. Und trotzdem hält Rößler vor einigen hundert weißhaarigen Männern und Frauen im Hygienemuseum eine Rede, die deutsche Nationalsymbole feiert und nicht mit einem Wort auf die rechten Umtriebe eingeht:
„Ich bin der Meinung, dass das Lernen der Nationalhymne in der Grundschule eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Auch das Singen der Hymne bei öffentlichen Veranstaltungen muss eine Selbstverständlichkeit sein. Das dient der Identifikation unserer Bürger mit unserem demokratischen Gemeinwesen.
Wer sich erfolgreich integrieren und die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen will, muss sich aktiv in den deutschen Staat mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung einfügen. Die deutsche Sprache erlernen. Unser Wertesystem anerkennen. Und unsere Leitkultur leben.“
Wow. Und dann noch der Satz: „Patriotismus muss auch emotional verankert sein. Das stärkt das Gemeinschaftsgefühl.“
Mein Verständnis war immer, dass der Staat für die Einhaltung der Gesetze sorgt, dass man nur im Zusammenhang mit der Verfassung von Patriotismus spricht. Aber der Präsident des sächsischen Landtags fordert, dass es für die Staatsbürgerschaft Voraussetzung ist, dass man das Wertesystem der CDU übernimmt, ihre Leitkultur lebt.
Aber welche Leitkultur ist das? Rößler spricht von Sprache, Kultur, Geschichte und Heimat. Aber er und ich haben sicherlich sehr unterschiedliche Ansichten zu diesen Themen. Und die meisten Wähler anderer Parteien auch. Ganz zu schweigen von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen, Abstammungen und Musikgeschmäckern.
Was, frage ich mich, bedeutet „mehr Patriotismus“ dann für all diese Menschen?
Und was bedeutet es, wenn dieses Mehr an Patriotismus auch noch emotional verankert werden soll, durch das Singen der Nationalhymne und das Schwenken der deutschen Fahne? Emotional geht es jeden Montag in Dresden zu. So emotional, dass es mir jedes Mal kalt den Rücken runter läuft. Und auch in Clausnitz und Bautzen, in Freital und Heidenau wurde Patriotismus sehr emotional zum Ausdruck gebracht.
Gut. Die sächsische CDU will wieder nach rechts rücken. Früher war es Teil des Selbstverständnisses der Bundes-CDU, dass keine Partei rechts von ihr existieren dürfe. Angela Merkel hat die Partei modernisiert und jetzt ist da die AfD. Vielleicht also alles nur Wahltaktik, doch Rößler wirkt, als ob ihm die Vorstellung von Grundschulkindern, die die Nationalhymne singen, gefällt.
Dass ich dann draußen so hysterisch lachen muss, liegt aber an einem Gespräch, das ich nach der Veranstaltung führe. Soziologe Rehberg ist da und unterhält sich mit zwei Bekannten. Die eine ist Lektorin, die andere Pädagogin. Wie Rehberg waren sie in den 68ern aktiv.
An dem Begriff Leitkultur stoßen sie sich nicht. „Rößler hat den doch mit den Begriffen Antike, Christentum und Aufklärung gut ausgefüllt“, sagt die Eine und die Andere pflichtet bei, dass es ja um Patriotismus geht und nicht um Nationalismus.
Schaut man sich die rechtspopulistischen Parteien in Europa an, all jene, die als wirkliche Rechtsausleger gelten, dann argumentiert keiner mehr mit Rasse, stattdessen mit Kultur. Die christliche Kultur Europas passe nicht zur muslimischen und deshalb dürfen sie sich nicht vermischen – das ist ihre Linie.
Das Prinzip Leitkultur, das Rößler an diesem Abend propagiert, schließt Andersdenkende, Nicht-Deutsche aus. „Und wir sitzen im Hygienemuseum und der Begriff Leitkultur wird so lapidar verwendet?“, werfe ich Rehberg und den beiden Frauen entgegen. Doch zu meiner Überraschung sehen die beiden Frauen da kein Problem.
Später sitzen Thomas und ich auf einem leeren Spielplatz und essen Currywurst mit Pommes. Das Lachen ist einer Bedrücktheit gewichen.
Ich sage zu Thomas, dass ich manchmal nicht weiß, warum ich mir den ganzen negativen Kram antue. Er sagt, wenn er keine Hoffnung hätte, dann würde er auch wegziehen, aus Sachsen, aus Deutschland. Es gäbe hier keine Landstriche, an denen er so hängen würde, dass er unbedingt bleiben müsse.
Landstriche, das klingt nach Heimat und nach der Schönheit von Caspar David Friedrichs Landschaftsgemälden. Doch wie diesen Gemälden ein ständiges Aber innewohnt, beschleicht mich auch beim Wort „Heimat“ immer ein ambivalentes Gefühl.
Vor ein paar Tagen habe ich in einem Artikel ein Karl-Jaspers-Zitat gelesen: „Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.“ Ich fand das die erste sinnige Definition von Heimat – eine, bei der nicht Blut und Boden mitschwingen.
Verstanden habe ich mich mit den meisten Menschen, die wir in den vergangenen Wochen trafen, gut. Fast keiner war ein Arschloch. Aber ich habe unzählige Male nicht verstanden, warum die Menschen so notlos rassistisch sind.
Doch erst beim Gespräch nach der CDU-Veranstaltung wurde ich auch dort nicht verstanden, wo ich sonst meine geistige Heimat wähne. Ich saß im Kreis mit Rehberg und den Frauen, die gegen Steuerflüchtlinge und den Kapitalismus wetterten, typisch links-liberales Bürgertum.
Doch in Sachsen scheinen auch hier andere Regeln zu gelten. Denn auch sie fanden die Idee einer Leitkultur völlig selbstverständlich.
Da läuft es einem zwangsläufig nur noch kalt den Rücken herunter! Und warum stellt so ein bekanntes und gutes Museum die Räume zur Verfügung? Solche VA haben dort eigentlich nichts zu suchen. Museen sind freie Orte. Schrecklich
das ist in der tat beängstigend und z.b. in bayern durchaus anders meiner erfahrung nach. als ob (post)moderene gesellschaften irgendwie normativ integrierbar wären! reaktionäre komplexitätsleugner: augen fest zukneifen, dann geht diese doofe, unübersichtliche welt sicher weg! los jetzt!
👀 Ich sehe die CDU und Sachsen , dank dieses Artikels, nun mit ganz anderen Augen ! 👀
„Verstanden habe ich mich mit den meisten Menschen, die wir in den vergangenen Wochen trafen, gut. Fast keiner war ein Arschloch.“
Ich wette du bist weiß… 😉
Zu Herrn Rößler können Sie gleich noch Herrn Kupfer aus der sächsischen CDU hinzuzählen. Warum diese beidem geistigen Brandstifter noch nicht in die AfD gewechselt sind, ist mir ein Rätsel.
Ich kenne einige Beispiele aus der frühen Wendezeit, wo sich Bekannte gar nicht schnell genug taufen lassen und der Kirche beitreten konnten, die zu keiner Zeit zuvor auch nur den Anschein irgendeiner seriösen Religiosität machten. Für mich machte das stets den Eindruck einer Anbiederung an die neuen Machtverhältnisse. Und gerade in Sachsen funktionieren diese neuen Seilschaften, die in den 90ern die alten ersetzen, noch heute ausgezeichnet (Stichwort: Sachsen-Sumpf). Das „christlich“ ist allzu oft nur Synonym einer gewissen Clubzugehörigkeit und gefühlten elitären Stellung, statt einer überzeugten theologischen Weltanschauung. Die Angstmacherei rund um die Flüchtlingskrise lässt nun diesen bisher gut funktionierenden Deckmantel des frommen Bürgerlichen aufbrechen. Und hervor kriechen die gleichen alten ressentimentgetriebenen Figuren, die auch schon nach der Wende nur ihre Pfründe im Sinn hatten. Die Leute, die in Dresden „Wir sind ein Volk“ statt wie in Leipzig „Wir sind das Volk“ und nach der D-Mark riefen (und dabei mit Wirtschaftsmigration drohten – welch Ironie). Dresden, Freital, Heidenau, Clausnitz, heute Pirna – diese Orte liegen nicht umsonst alle so dicht beisammen. Und die Sachsen-CDU thront mittendrin.