Maria Schmidt-Lorenz weiß, dass ich mit ihr darüber reden will, was die friedliche Revolution mit den dauernden Protesten in Sachsen zu tun hat. Doch sie beginnt unser Gespräch mit dem Satz: „Ich sollte erst etwas über meine Lebensgeschichte erzählen.“
Die Geschichte ihres Lebens, das sind: ein dummer Spruch über die Selbsttötung eines Ministers, die Stasi-Aktionen gegen ihren Vater, die dazu führten, dass er sich umbrachte, ihr Gefühl in einem Freiluftgefängnis gelebt zu haben. Und: die friedliche Revolution, die für viele Menschen im Osten das wichtigste politische Ereignis überhaupt ist.
Vergangene Woche meinte eine Lehrerin in Aue, dass so viele Unzufriedene in Sachsen auf die Straße gehen, weil sie schon ein Mal ein System damit stürzten. Deshalb wollte ich mit jemandem über die Tage der Revolution reden. Maria Schmidt-Lorenz ist die Vermieterin unseres Büros und Fotograf Thomas meinte, dass sie vielleicht eine gute Gesprächspartnerin sei. Er kannte Teile ihrer Biographie. Alles wusste er auch nicht, aber als sie zu Ende erzählt hatte, konnten wir uns besser vorstellen, warum die friedliche Revolution bis heute so wichtig ist im Leben der Menschen in Sachsen.
Wir treffen die 65-Jährige in einem Schnellrestaurant in Leipzigs Südvorstadt. Sie wurde in Hohenstein-Ernstthal bei Chemnitz geboren, ihr Vater arbeitete als Tiefbauingenieur. Schmidt-Lorenz war sechs, als sich ihr Vater einen Spruch an die Bürowand hing: „Wennschon, dennschon!“ Hinter vorgehaltener Hand war der Spruch ein gängiger Witz über einen DDR-Minister, der sich erschossen hatte. Offen ausgesprochen, war es staatsfeindliche Hetze. „Wegen des Spruchs wurde mein Vater angezeigt“, sagt Schmidt-Lorenz. „Irgendwer war neidisch auf seinen Posten und die Sekretärin hat ihn bespitzelt.“
Die Stasi verhaftete ihren Vater, es kam zum Prozess. Lorenz-Schmidt nennt ihn einen Hexenprozess. Zeugenaussagen wurden gesammelt, Beweise zusammengetragen, das Urteil gefällt: drei Jahre Haft.
Ihr Vater lehnte nicht die DDR ab, sondern stieß sich allgemein an Autoritäten. Schon unter den Nazis war er angeeckt. Auch seine Frau und Kinder trugen die Konsequenzen. Die Stasi durchwühlte ihr Haus, alles war verdächtig. Schmidt-Lorenz erinnert sich noch an die bunten Luftpostbriefe von der Tante in Amerika, die die Stasi-Mitarbeiter aus dem alten Sekretär zogen.
„Wir waren dann die Außenseiter in der Kleinstadt. Die staatstreuen Lehrer sind auf uns rumgetrampelt, ich habe mich aussätzig gefühlt, wie ein räudiger Hund.“ Nur eine Familie hielt zu ihnen, doch auch die bekam bald Besuch von der Stasi. Schmidt-Lorenz‘ Großmutter erlitt in der Zeit einen Herzanfall. „Ich habe als Kind gedacht: ‚Papa ist im Gefängnis. Der war bestimmt böse.’“
Als der Vater freigelassen wurde, machte er rüber. Ihre Mutter blieb. Sie fürchtete, die Kinder zu verlieren, falls sie erwischt würde. Wahrscheinlich hätte das geheißen: Kinderheim. Sie stellten Ausreiseanträge, doch die wurden abgelehnt, die Briefe ihres Vaters an die DDR-Führung und Albert Schweitzer halfen nicht.
Schmitz-Lorenz’ Vater versuchte im Westen neue Wurzeln zu schlagen, arbeitete sich hoch. Das Trauma der Haft zu verdrängen, gelang mal besser, mal schlechter. Dann war sie auf ein Mal wieder da, die Willkür. Einer seiner neuen Chefs verbaute ihm erst wichtige Berufschancen, dann feuerte er ihn. Das brach Schmidt-Lorenz‘ Vater das Genick. Er wurde später in seinem Auto gefunden, erstickt durch Auspuffabgase.
„Ich habe damals vor Wut geheult. Jetzt hatte sich mein Vater endgültig aus dem Staub gemacht“, erzählt Schmidt-Lorenz. „Auf der anderen Seite war ich froh, ich konnte jetzt überall reinschreiben ‚verstorben’, ich musste nicht schreiben ‚wohnhaft in…’“
Während Schmidt-Lorenz erzählt, setzt sich eine Gruppe Studenten mit großen Biergläsern an einen Tisch neben uns. Sie kommen für das besondere Flair. Das Schnellbüffet Süd ist ein Überbleibsel aus der DDR, auf der Speisekarte stehen Buletten und Soljanka. Neben den Studenten sitzen alte Männer, die schon um 11 Uhr Mittagessen bestellen. Für die Studenten ist es eine kleine Zeitreise, ein witziger Ostalgie-Trip. Die alten Männer suchen vielleicht etwas, das sie vermissen.
Schmidt-Lorenz vermisst diese Zeiten nicht, denn auch mit dem Tod ihres Vaters waren dir Probleme nicht vorbei, obwohl sie in der Anonymität der Großstadt Leipzig abtauchte,
heiratete, ihren Nachnamen änderte, erfolgreiche Ingenieurin für Hochbau wurde. Der Schatten der Vergangenheit blieb. Einmal erwischte sie und ihr Sportsegel-Team ein Sturm vor Rügen. Ihr Boot wurde aus der Dreimeilen-Zone geblasen. Ein Schnellboot fing sie ab. „Wenn Sie Widerstand leisten, wird geschossen!“, drohte die Stasi.
Schmidt-Lorenz und ihre Teamkameraden wurden verhaftet und die ganze Nacht verhört. „Ich habe nur gedacht: ‚Wenn die rausfinden, wer dein Vater ist, dann ist alles zu spät.’“ Nach 24 Stunden kam sie frei. Aber das Gefühl, ein unsichtbares Mal zu tragen, blieb.
Bis zur Wende.
„Das war Wahnsinn. Das war dann wie ein Schneeballsystem. Alle haben sich gegenseitig angerufen“, erzählt Schmidt-Lorenz. Am 16. Oktober sie mit ihrem Ehemann zur Kundgebung. Als der Demozug sich näherte, reihte sich ihr Mann plötzlich ein. „Ich dachte, ich spinne. Weg war er!“
Am 16. Oktober nahmen 120.000 Menschen an den Demonstrationen teil, in der Woche danach 320.000. Die
Menschen verloren ihre Angst voreinander und vor dem Staat. bald danach feierten sie ihren Sieg über die SED.
„Meine Mutter wurde nach der Wende ein ganz anderer Mensch. Ihre Angst war weg. Vorher saß sie oft so da, wissen Sie…“ Schmidt-Lorenz sucht nach Worten, findet sie nicht. Stattdessen rutscht sie nach vorn auf die Stuhlkante, drückt den Rücken durch, presst ihre Arme an und krampft die Hände zusammen. „Meine Mutter war plötzlich viel freier. Die hat immer gesagt: ‚Ich habe Jahrzehnte im Schatten gelebt.’“
Für alle, die die Gängelung in der DDR und die Montagsdemos nicht erlebt haben, sei es nicht nachvollziehbar, wie sich das damals angefühlt hat, meint Schmidt-Lorenz. Im Westen habe es viel weniger Brüche gegeben. Und ja, vielleicht gehen die Menschen auch heute in Sachsen wieder vermehrt auf die Straße, weil sie schon ein Mal Erfolg damit hatten. Unbesiegbar war die SED und ihr Unterdrückungsapparat erschienen und dann einfach in sich zusammengefallen. Viele scheinen sich zu fragen: Warum sollte das nicht wiederholbar sein?
Zum Ende unseres Gesprächs frage ich sie, wie sie den Film Das Leben der Anderen findet. Als ich in Bonn als Filmvorführer in einem Programmkino arbeitete, habe ich ihn wochenlang gezeigt und Schmidt-Lorenz‘ Geschichte erinnert mich daran. Das Publikum war nach dem Film oft den ganzen Abspann über sitzen geblieben, um die Geschichte von Unterdrückung, Bespitzelung und Verrat zu verarbeiten. Auch mir ging es beim ersten Mal so. Als ich ihn kürzlich noch mal sah, fand ich ihn übertrieben, die Geschichte wirkte konstruiert, künstlich dramatisiert. So schlimm konnte es ja nicht gewesen sein.
„Als ich ihn gesehen habe, habe ich mich verarscht gefühlt“, sagt Schmidt-Lorenz. „Das war völlig verharmlost. Aber wahrscheinlich muss man das so machen, damit es für ein heutiges Publikum konsumierbar ist.“