Tag 14: Niemand fiel ins Bergfreie

Die Wende traf Hoyerswerda hart, zehntausende Menschen verloren ihre Jobs, fast jede Familie war betroffen, viele mussten in den Westen gehen. Diese Geschichten zu hören, hatten wir erwartet. Dass es aber ganz gut abgefedert wurde, letztlich halb so schlimm war, diese Einschätzung überraschte uns. Wir hatten tiefere seelische Verletzungen erwartet. Erwartet hatten wir auch, dass es Nazis gibt. Was uns überraschte, war der schulterzuckende Umgang damit. (960 Wörter)

Am Vortag hatten wir Georg Schneider in seiner Gartenkolonie getroffen und über die Wende gesprochen. Beiläufig erzählte er, dass einer der Nachbargärten von einem Rechten gemietet ist. Vor einem Jahr hätten sich dort dreißig bis vierzig Nazis getroffen, „der ganz harte Kern“, wie Schneider meinte. Sie hätten wohl Adolf Hitlers Geburtstag gefeiert, sagte er schulterzuckend, was ihn mehr störte, war, dass der Mieter den Garten anfänglich verwildern ließ. Aber nachdem Schneider sich einmal beschwert hätte, wäre das in Ordnung gekommen.

Am nächsten Tag treffen wir seinen alten Freund Reinhard Thäßmann. Ein bodenständiger, sympathischer Kerl. Als Gewerkschafter kämpfte er jahrelang für sozialverträgliche Entlassungen. Er kennt tausende Schicksale. Genau deswegen spreche ich mich ihm, ich suche immer noch nach Bestätigung für meine These, dass die Wende die Menschen so verunsichert habe, dass sie heute so offen sind für rechtes, ausgrenzendes Gedankengut.

Aber auch Thäßmann relativiert, dass die Wende wirklich so brutal war. Und die Sache mit den Rechten relativiert er auch:

Reinhard Thäßmann, 65, Elektro-Steiger bei Vattenfall, Gewerkschafter:

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Reinhard Thäßmann

Ich war nach der Wende bis 1998 freigestellter Betriebsrat. Es war meine Aufgabe vom Arbeitgeber so viel Geld zu bekommen, dass die Entlassenen ein Auskommen hatten. Und tatsächlich ist niemand ins Bergfreie gefallen. Klar ist es schlimm, wenn man mit 50 Jahren seinen Arbeitsplatz verliert. Und das auch noch in einer Region wo keine Neuen sind. Bei manchen spielte der Kopf da nicht mit. Aber Arbeitslose haben in Hoyerswerda nicht irgendwo groß rumgelungert. Von den Menschen, die ich in der Betreuung hatte, sind mehr erfolgreich geblieben, als dass sie ganz abgerutscht sind.

Viele in ihren Dreißigern und Vierzigern haben eine Abfindung plus das Zehnfache der Lohngruppe bekommen. Da sind Leute mit 90.000 bis 100.000 DM nach Hause gegangen. Und ich habe dann gesehen, wie schnell sich Menschen neuorientieren können. Viele sind einfach weggezogen, haben im Westen Jobs gefunden.

Das gilt auch für die Jungen. Von 120 Azubis haben wir oft nur zehn bis sechzehn übernommen. Die Verantwortlichen sagten dann: Ihr habt einen guten Beruf gelernt, ihr seid auf dem Markt vermittelbar. Und im Westen haben die dann tatsächlich einen Arbeitsplatz bekommen.

Klar gibt es Rechte in Hoyerswerda. Ab und zu stehen mal dreißig dieser Typen auf irgendeinem Platz. Und dann gibt es auch ein paar Sympathisanten. Da guckt man hin und denkt: „Ach, die hundert, das ist doch gar nichts.“ Aber dann kommt die nächste Crew von RTL und macht die immer gleichen, verurteilenden Bilder, wie bei den Ausschreitungen 1991.

Und wenn man die Geschichte von 1991 mal ehrlich aufarbeiten würde, müsste man sagen: Das waren nicht die Leute aus Hoyerswerda, sondern Kreuzberger Linke und zugereiste Rechte aus ganz Deutschland, die da randaliert haben. Und den Terror gemacht, haben vor allem die Kreuzberger Linken. Nicht die Rechten, sondern die Linken haben zum ersten Stein gegriffen.

Und die Leute, die heute bloß sagen: „Wir wollen keine Ausländer hier“, das sind keine Rechten. Die lasse ich kurz davor stehen. Ich kenn solche auch, aber die wurden halt einfach von den großen Parteien alleine gelassen.

Da ist sie wieder, diese Verschiebung, diese Normalität, die für mich so neu ist.

Eine Stadt mit 70.000 Einwohnern verliert ihren Hauptarbeitgeber, jährlich müssen mehrere tausend Menschen die Stadt verlassen, um sich irgendwo im Westen ein neues Leben aufzubauen. Zurück bleiben die Frührentner und die gescheiterten Existenzen, die die Wende nicht als Chance begreifen, nicht als Chance begreifen können. Jene, die zur Flasche greifen oder sich umbringen. Aber das war halt nicht die Mehrheit, sagt Thäßmann, und deshalb seien sie in Hoyerswerda doch eigentlich ganz gut durchgekommen.

Erst als ich geistig einen Schritt zurücktrete und Thäßmanns Aussagen über die Geschichte von Hoyerswerda mit der Geschichte anderer Städte vergleiche, wird mir bewusst, wieso mich diese Aussagen so verwirren. Ich habe ein Jahr in Reutlingen gewohnt. Die Stadt war früher ein wichtiger Textilstandort. Dann wanderte die Textilindustrie ab, aber dafür kamen andere Betriebe. Bosch hat dort eine große Fabrik, es gibt viel gesunden Mittelstand. Würde die Menschen in Hoyerswerda diese Maßstäbe anlegen, würden sie wahrscheinlich anders über ihr Leben sprechen. Aber das tun sie nicht. Stattdessen sagt Thäßmann:

Bei manchen wirkt die Wende bestimmt noch nach. Aber die, die sich neuorientierten, haben das überwunden. Die haben sich den Dingen gestellt und ihre Situation zum Positiven verändert.

Und dann ist da diese andere Normalität, die sich für mich so neu anfühlt. An keinem anderen Ort als Sachsen treffe ich so viele Menschen, die so sympathisch sind und die rechtes Gedankengut für so selbstverständlich halten.

Jahrelang kämpfte die Initiative Pogrom91 für ein Denkmal, das die Ausschreitungen 1991 thematisiert. Vor anderthalb Jahren wurde es errichtet.
Jahrelang kämpfte die Initiative Pogrom91 für ein Denkmal, das die Ausschreitungen 1991 thematisiert. Vor anderthalb Jahren wurde es errichtet.

Vor drei Jahren griff in Hoyerswerda ein Mob die Wohnung eines Pärchen an, weil die beiden Naziaufkleber abgekratzt hatten. Die Nazis drohten mit Vergewaltigung. Die Polizei legte dem Pärchen später nahe, die Stadt zu verlassen. Man könne für ihre Sicherheit nicht garantieren. Die beiden leben bis heute an einem geheimen Ort.

Die Geschichte machte bundesweit Schlagzeilen und ist in Hoyerswerda wohl bekannt. Waren das vielleicht die Angreifer vielleicht die gleichen, die sich im Garten trafen, um Hitlers Geburtstag zu feiern? Und wie kann man in so einer Situation sagen: Den ersten Stein haben die Linken geworfen? Und was mich noch viel mehr verstört, ist dieser Satz, den man in Sachsen oft zu hören bekommt: „Und die Leute, die heute nur sagen: „Wir wollen keine Ausländer hier“, das sind keine Rechten.“

Wer ist denn dann rechts? Und wie viel braucht es dann noch, um solche Menschen zu Taten zu bewegen?

Thäßmann sieht da keine Gefahr, dabei gibt er mir selbst die Antwort:

„Wenn ich hier ein Mensch mit großer Kraft und großem Darstellungsvermögen bin und ich stelle mich vor eine Menschenmenge, dann habe ich morgen tausend Leute hinter mir.“

 

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