Aus Angst vor Nazischlägern war ich aus Aue geflohen und als ich zurückkehre, ist die Angst wieder da: „Wir können Sie nicht auf der Straße interviewen“, sagt der MDR-Reporter zu mir. „Die Stadtverwaltung hat uns gewarnt, dass sie nicht für unsere Sicherheit garantieren kann.“
Ich wurde nach Aue ins Rathaus eingeladen, um bei einer öffentlichen Diskussion über die Neue Normalität und rechtes Gedankengut zu sprechen. Weißhaarige Männer werden mich beschimpfen, Nazis vor der Türe lauern. Aber als ich später wegfahre, spüre ich dennoch Hoffnung.
Aue war unsere erste Station, das war: ein Fußballfan, der Flüchtlinge lynchen wollte, ein Sternmarsch gewaltstrotzender Rechter, Geschichten über Nazis, die einem linken Jugendlichen Zigaretten auf dem Hals ausdrückten. Und was uns verzweifeln ließ: Selbst die engagierte Bürgerschaft merkte das allgegenwärtige Braun nicht, sie hat sich daran gewöhnt, wie man sich an Gestank gewöhnt.
Als wir dann vier Wochen später im Interview mit der ZEIT unsere Erfahrungen schilderten, schreckte die Kleinstadt auf. Der Oberbürgermeister Heinrich Kohl gab eilig ein Interview, nannte den Nazi-Sternmarsch verharmlosend einen „gemütlichen Spaziergang“, seine Pressesprecherin Jana Hecker warf uns Voreingenommenheit vor, jemand schickte mir per Post ein Glas voll Exkremente.
Als dann zwei Brandsätze auf die örtliche Flüchtlingsunterkunft flogen, schrieb der Oberbürgermeister über die möglichen Täter: „Auch Trittbrettfahrer aufgrund der medialen Berichterstattung nach einem sehr einseitigen Bericht eines Journalisten in einer großen deutschen Wochenzeitung wären denkbar.“
Ich sollte also Schuld sein an dem Brandanschlag?
Zur gleichen Zeit forderte ein Lokalpolitiker, dass ich mich der „Bevölkerung von Aue in einer Podiumsdiskussion stelle.“ Ich sagte trotz der Anfeindungen zu, weil Aue vieles vereint, was wir auf unserer Reise erlebt haben und die Chance für ein Fazit bieten würde.
Der Organisator der Veranstaltung Frank Richter, Chef der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, begrüßt uns im Rathaus. Seine Augen sind müde, aber konzentriert. Manche schmähen ihn als Pegida-Versteher, mir kommt er vor, wie der sächsische Sisyphos, der den Stein des Dialogs unermüdlich durch braune Kleinstadt-Sümpfe rollt.
Dabei scheint den ehemaligen Pfarrer das Gebot der Nächstenliebe immer noch zu prägen und die Erfahrung zeigt, dass auf sächsischen Bürgerdialogen der Grad zwischen Konfrontation und Eskalation schmal ist. Deshalb sitzen Richter, der Oberbürgermeister Kohl, die übrigen Redner und ich nicht auf einer Bühne, sondern zwischen den knapp hundert Anwesenden. Das soll deeskalieren.
Den Anfang macht der Friedensrichter der Stadt: „Sie sind sehr stark an der Grenze, dass ich ein Verfahren wegen Beleidigung gegen Sie eröffnen muss.“ Er ist auch CDU-Stadtrat und neben ihm sitzen einige Parteikollegen, weißhaarige Männer, die gleich zu Anfang die Arme hochrissen, um das Mikrofon zu bekommen. Ihre Gesichter spannen sich vor Wut.
„Ich möchte Ihre Lebenserfahrung mit 30 Jahren, geboren in Bonn, das zweite Mal in Aue, vielleicht das dritte Mal in Sachsen, weder schlecht reden noch bewerten. Aber ich finde ihren Artikel unter der Gürtellinie. Punkt“, sagt ein weiterer CDUler.
„Ich bin stolz, Auer zu sein, ich bin stolz auf unsere Stadt“, sagt ein Mann in hellem Hemd und Jeans. „Und jetzt kommt ein Nestbeschmutzer wie Sie, Herr Thelen, dahergelaufen und beleidigt unsere Bevölkerung auf gröbste, unflätigste Weise. Solche Leute wie Sie gehören nicht in unsere Stadt. Wenn in meine Wohnung jemand reinkommt und versucht, Stunk zu machen, den schmeiß ich raus, dem geb’ ich Hausverbot.“
Merken diese Männer nicht, dass sie meinen Eindruck von Aue bestätigen? Merken sie nicht, dass die Nazis, die sich unten auf der Straße zusammenrotten, ihre Ansichten teilen? Dass in diesem geistigen Klima die Gewalt gedeiht, wegen der mir angeboten worden war, Polizeischutz zu beantragen und unser Auto bewacht werden muss?
Frank Richter nimmt die Stimmung der Männer auf, sagt salomonisch, dass es hier wohl sehr unterschiedliche Ansichten gäbe und bringt seine anderen Gäste ins Spiel. Einen Mann vom Verfassungsschutz, der über rechte Gewalt berichtet, die stellvertretende Chefredakteurin der Freien Presse Chemnitz und ihren Kollegen aus Aue, die noch mal erklären, welche Rechte und Pflichten die Presse hat.
Und nach einer Dreiviertelstunde verliert die Wut der alten Männer an Kraft, sie werden ruhiger und plötzlich werden andere Stimmen laut.
Ein Mitglied der Freien Wähler stellte sich mir zu Beginn mit den Worten vor: „Ich bin André Harzer, wie der Käse. Aber hoffentlich rieche ich nicht so.“
Jetzt ergreift er das Mikrofon und sagt: „Ich glaube, wir machen es uns zu einfach, die beleidigte Leberwurst zu spielen. Ich glaube, die eigentliche Aussage des Artikels von Herrn Thelen war, dass Nazidenke wieder in den Köpfen angekommen ist. Die Weimarer Republik hielt sich auch mal für eine stabile Demokratie. Wie das geendet ist, wissen wir alle. Und ich glaube, der Satz von Brecht: ‚Der Schoß ist fruchtbar noch’ hat noch Gültigkeit. Und das kann jeder in seinem Freundeskreis beobachten: Über Judenwitze wird wieder gelacht, Negerwitze zu machen, ist wieder schick. Und das Schweigen der Mehrheit ist das eigentliche Problem.“
Von allen Rednern an dem Abend bekommt Harzer den lautesten Applaus.
Dann steht eine junge Frau auf und wendet sich an die wütenden Männer: „Sie haben gesagt, Herr Thelen wäre ein Nestbeschmutzer. Lassen Sie sich von einer jungen Frau, die im Erzgebirge aufgewachsen ist, sagen: Ich kann das Bild genauso bestätigen und aus genau diesem Grund habe ich das Nest verlassen.“ Während sie spricht, brüllt ein alter Mann dazwischen, fuchtelt mit dem Finger. Niemand sonst wurde bisher unterbrochen, außer dieser jungen, selbstbewussten Frau. Was provoziert ihn so?
Dann die Fraktionsvorsitzende der Freien Wähler: „Wenn wir der Befreiung von Ausschwitz jährlich gedenken, sind wir unter uns. Wo sind die Schulklassen? Wo sind die, die wir erreichen wollen? Da müssen wir etwas verändern.“
Während wir also da zusammensitzen, spielt sich etwas im Kleinen ab, das ich seit Monaten auch im Großen beobachte: Die Schreihälse der Neuen Rechten sind am lautesten und deshalb glaubt man, sie seien die Mehrheit.
Aber sie sind eine Minderheit.
Eine überlaute Minderheit, die unserer Gesellschaft ihren Stempel aufdrückt, Andersdenkende einschüchtert und Politiker vor sich hertreibt – aber dennoch eine Minderheit.
Das Problem ist: Wäre die Veranstaltung nach einer Dreiviertelstunde zu Ende gewesen, hätte ich gedacht: Jap, Aue ist halt ein braunes Nest. Aber so weiß ich, dass die Schreihälse nicht Sachsen, nicht Deutschland sind. Was sie dennoch anrichten können, was Nationalismus anrichten kann, zeigt der Brexit.
Frank Richter ist ausdauernd, wie der mythische Sisyphos, aber er will den Stein gar nicht unbedingt auf den
Gipfel gerollt bekommen. Er will einfach, dass die Menschen miteinander reden.
Aber reicht das, miteinander reden?
Vor der Reise fragte ich mich, wie man mit den Rechten umgehen soll: Einbinden oder ausgrenzen? Ich tendierte zu Richters Ansatz.
Aber nach den Erfahrungen meiner Reise sage ich: Mit manchen lohnt es sich nicht zu reden. Sie sind so verbohrt und, ähnlich wie die wütenden Männer in Aue, nicht mehr für Diskussionen zugänglich. Sie haben andere Vorstellungen für unser Land und wir werden sehen, wer sich durchsetzt.
Außerdem kostet es viel Kraft, mit dem Hass dieser Menschen umzugehen. Nach unserem Besuch in Dresden, vierzig Tage nach dem Beginn unserer Reise, musste ich drei Wochen Pause machen, habe keine Zeile über Sachsen geschrieben, keine Zeile gelesen.
Effektiver als Diskussionen mit den Ewiggestrigen scheint es, diese Energie zu nutzen, um den Schwächsten unserer Gesellschaft zu helfen, Flüchtlingen Deutsch beizubringen, Initiativen zu gründen. So wie es in Coswig gelebt wird.
Petra, die in Plauen bei den Nazis mitlief, war wütend auf die Bundesregierung, weil sie nach der Elternzeit ihr Kind abgeben muss. Und die Nazis waren die einzige Gruppe in der Gegend, die ihr stark genug schienen, ihrer legitimen Wut Ausdruck zu verleihen. Während unseres Treffens redeten wir aber auch über andere Gruppen, in denen man sich engagieren kann. Später schrieb Petra mir eine SMS, dass sie sich jetzt woanders anschließen möchte.
Und in Aue?
Viel wird auf Bürgermeister Kohl ankommen. Er verharmloste den rechten Sternmarsch, sagte aber auch, dass er schockiert ist über die vermehrten rassistischen Sprüche in seinem Freundeskreis.
Wie wird er reagieren, wenn das nächste Mal Männer in Springerstiefeln durch seine Stadt laufen? Wird er wieder stumm bleiben, um „den Nazis keine Aufmerksamkeit zu schenken“, wie er sagt? Oder wird er seine Autorität nutzen, um das weltoffene Aue hinter sich zu versammeln und die Wankelmütigen und Unzufriedenen zurückzugewinnen?
Frank Richter will ein weiteres Treffen in Aue organisieren, den Stein am Rollen halten. Ich bewundere seine Gelassenheit, mit der er unermüdlich die Frustration der Unzufriedenen absorbiert.
Thomas und ich wurden eingeladen, nach Aue zurückzukehren, um auch die bunten Seiten der Stadt kennenzulernen. Das wollen wir gerne tun. Aber vorerst beenden wir unsere Reise. Aus einem sind drei Monate geworden und der Blog hat nicht nur mich verändert, sondern auch aus der Onlinewelt in die Offlinewelt reingewirkt und den ein oder anderen Leser, Protagonisten und Auer Diskutanten berührt.
Das ist viel mehr, als wir erwartet hätten und spornt uns an, noch tiefer einzusteigen. Denn die Schlachten, die in Sachsen derzeit geschlagen werden, finden schon längst auch anderswo in Europa und in den USA statt.
Und sie werden sich auch im übrigen Deutschland verstärken.